MEINE STADT
AUF ЯUSSISCH
Aus dem Russischen übersetzt
von Rupert Ossweil
Ludwigsburg
2021
Inhalt
Kapitel 1
August 2019
Deutschland, Ludwigsburg, Marktplatz
Kapitel 2
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Rathaus
Kapitel 3
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marstall
Kapitel 4
Herbst 2005
Deutschland, Ludwigsburg, Volkshochschule
Kapitel 5
Februar 2019
Deutschland, Monte Scherbelino bei Stuttgart
Kapitel 6
Winter 2005–2006
Ein kleines Dorf am Bodensee
Kapitel 7
Winter 2005–2006
Deutschland, ein altes kleines Haus nahe Ludwigsburg
Kapitel 8
Herbst 2006
Deutschland, Marbach
Freundschaft mit Anita aus Bosnien
Kapitel 9
Januar 2008, Russland, Smolensk
Anton Denisjenko. Zwanzig Jahre danach
Kapitel 10
11. März 2009
Deutschland, Winnenden unweit von Stuttgart
Tim Kretschmer
Kapitel 11
Herbst 2009, Deutschland
Russisch für Tochter Katharina
Kapitel 12
1978–1988
Sowjetunion, ein Städtchen nahe Kaluga
Meine Liebe zum Russischen und zur Literatur
Kapitel 13
Herbst 2009
Der Name für die russische Schule
Kapitel 14
Herbst 2009
Deutschland, Marbach
Die ersten Klienten
Kapitel 15
Winter 2010
Umzug nach Ludwigsburg
Kapitel 16
August 2011
Die Gruppe «Mama und Kind»
Kapitel 17
Schuljahr 2011–2012
Übergesiedelte Mütter
Kapitel 18
Winter 2012, Ludwigsburg
Artikel der «Ludwigsburger Kreiszeitung»
Kapitel 19
Winter 2012
Marika
Kapitel 20
Frühjahr 2012
Ein unruhiger Nachbar
Kapitel 21
Frühjahr 2012
Die Rache des Nachbarn: Wir sind eine illegale Kindergartengruppe
Kapitel 22
August 2013
Flug Moskau — Frankfurt — Stuttgart; Ludwigsburg
Der verschwundene rosa Koffer
Kapitel 23
August 2013
Deutschland, Ludwigsburg
Ein Interview mit der Smolensker Zeitung «Gorod» (,Die Stadt»)
Kapitel 24
Polizei
Kapitel 25
Wie wir uns vergrößerten
Rechtsanwalt Stein
Wie wir uns vergrößerten
Kapitel 26
August 2017
Die Schule zieht um
Kapitel 27
2017. Ludwigsburg, Sonntag, spätabends
Valentina
Kapitel 28
2018, Ludwigsburg
Chila. Wenn du fest an dein Kind glaubst
Kapitel 29
Valeria
Kapitel 30
Die Zahlungsmoral der Russen
Kapitel 31
Warteraum in der Schule
Marina
Kapitel 32
Die einfach Verschwundenen
Kapitel 33
Januar 2019
Marbach, Schillers Geburtshaus
Kapitel 34
2018. Alina
Kapitel 35
Februar 2019
Marbach, Ausflug zum Schiller-Geburtshaus (Teil 2)
Kapitel 36
Juli 2019
Deutschland, Ludwigsburg, Café beim Brunnen
Melina, Marina und Christian
Kapitel 37
August 2019. Ludwigsburg
Ljuba Kraft: eine Wiederbegegnung nach vierzehn Jahren
Kapitel 38
Herbst 2019
Ludwigsburg, Kulturzentrum
Kapitel 39
Frühherbst 2019
Ludwigsburg
Karin
Kapitel 40
Dima
Kapitel 41
Jelena. Neun Jahre später
Kapitel 42
8. März 2020
Ludwigsburg, die Räume der russischen Schule
«Russisches Frühstück»
Kapitel 43
10. März 2020
Ludwigsburg. Markt 8 (Haus der evanglischen Kirche)
Kapitel 44
15. März 2020
Ludwigsburg. Der Beginn der Pandemie
Briefe an die Schülereltern
Kapitel 44
15. März 2020
Ludwigsburg. Der Beginn der Pandemie
Briefe an die Schülereltern
Kapitel 45
17. Juni 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marktplatz
Kapitel 46
Ein Brief an den Oberbürgermeister
Kapitel 47
31. Juli 2020
Ludwigsburg
Bildungszentrum «Katharina»
Epilog
Deutschland, Ludwigsburg
Ein Jahr später — 2021
Gewidmet dem zehnjährigen Bestehen der russischen Schule in Ludwigsburg
Allen Eltern und Schülern, die ich das Glück hatte kennenzulernen.
Meinen Töchtern Katharina und Julia.
Geschrieben für die Frauen und Mädchen, die sich danach sehnen,
ihr Heimatland zu verlassen, um ein besseres Leben zu suchen.
Geschrieben für alle, die sich für andere Kulturen
und Länder interessieren.
Kapitel 1
August 2019
Deutschland, Ludwigsburg, Marktplatz
Zwei Kirchen — eine größere, die evangelische, und eine kleinere, die katholische — ragen einander gegenüber und schauen schweigend auf das Treiben am Fuß ihrer Mauern. Ein Treiben, das im Vergleich zu anderen Tagen, wenn hier der Wochenmarkt oder ein Konzert stattfindet, heute nicht sehr lebhaft ist.
Ein paar Kinder rennen den Tauben nach; müdegejagt, sehen einige Vögel, einträchtig aufgereiht auf dem Sims eines Hauses, von oben zu.
Auf dem Platz halten Leute, sich in den Schatten der mächtigen Kirchenmauern bergend, Rast auf Stühlen. Die Stadt hat vorausschauend Sorge getragen, dass die Stühle nicht etwa festgeschraubt sind — so können die Einwohner sie, dem Lauf der Sonne folgend, ins Schattige rücken.
Andere haben sich in den kleinen Cafés und Restaurants niedergelassen, die um den ganzen weiten Platz herum verteilt sind, und schlürfen gemächlich leichte alkoholische Getränke — den hellgelb-klaren «Hugo» mit Minzeblättern oder den rötlichen Aperol mit Eiswürfeln. Sie essen eine Pizza oder löffeln ein Eis, in leisem Gespräch.
Viele, so ist zu spüren, genießen die letzten warmen Tage des Sommers.
Für mich ist es schon mehr der Herbst — allmählich sickert er von überall her ein. Er ist in der warmen Luft. Ist in dem gelben Blatt, das da von irgendwoher angeflattert kommt. Auf den dunkler gewordenen Blättchen der Pflanzen in den riesigen Töpfen rund um den Marktbrunnen in der Mitte des Platzes.
Meine Mädchen und ich überqueren den Platz in der Hoffnung, ein freies Tischchen draußen vor unserem Lieblingscafé zu finden, dessen italienischer Name, «Baci», auf Deutsch „Kuss“ bedeutet. Wir haben Glück; die Mädchen machen sich’s auf dem Lederbänkle bequem, das dicht vor den hohen Fenstern des Cafés steht; ich auf einem Stuhl. Das niedrige Tischchen reicht mir gerade bis zu den Knien.
Diesen Platz vor den Café-Fenstern liebe ich noch mehr, wenn ich ohne die Kinder komme. Er bietet Schutz: hinter dir die Fensterscheibe, vor dir die Säulen der Arkaden. Dabei siehst du alle, die an den Tischchen sitzen. Mit den Mädchen setze ich mich lieber an die gewöhnlichen etwas höheren runden Tische, aus Sorge, dass ihnen an den niedrigen Tischchen das Eis auf die Knie kleckert.
Es sind sehr viele Besucher da, doch die Kellnerinnen lassen es sich nicht nehmen, uns als alten Bekannten freundlich zuzunicken, während sie sich flink von Tisch zu Tisch bewegen. Eine von ihnen, die Besitzerin selbst, Angelina, ist eine schöne Italienerin mittleren Alters. Dunkelhaarig, stets geschmackvoll gekleidet, bedient sie die Gäste gemeinsam mit ihren Angestellten. Im Sonnenlicht glitzert der Schmuck, der, kundig gewählt, ihre Kleidung ergänzt.
Ich gebe rasch unsere Bestellung auf, ohne dafür in die Karte zu gucken. Weil ich für gewöhnlich, bei schönem Wetter im Sommer, immer das gleiche bestelle: kalten Kaffee mit Eiswürfeln, Vanilleeis und Sahne. Hier heißt das «Eiskaffee», ist aber was ganz anderes als der Eiskaffee“ in Moskau. Dort ist das eine Kugel Vanilleeis, die man in heißen Kaffee legt – du kannst da zusehen, wie diese Kugel deinen schwarzen heißen Kaffee allmählich in warmen Kaffee mit Milch verwandelt.
Lustigerweise bereiten die Italiener — ihnen gehören hierzulande in aller Regel die Eisdielen — diese Art kalten Eiskaffee nur in Deutschland; in Italien selbst ist dieses Getränk praktisch nirgendwo anzutreffen.
Meine ältere Tochter bestellt sich eine Eisschokolade: kalter Kakao mit Eiswürfeln, Vanilleeis und ohne Sahne. Mit Sahne findet sie das Getränk zu fett und sattmachend.
Die Jüngere bittet, ob sie eine Erwachsenen-Portion «Spaghetti-Eis» bekommen darf: Vanilleeis, durch ein Gerät in Nudelform gepresst, übergossen mit einer Erdbeersoße. Das Ganze sieht aus wie ein Teller Spaghetti mit Tomatensoße.
Unbemerkt von der Jüngeren wechsle ich einen Blick mit ihrer Schwester Katharina: uns ist klar, dass sie das nicht alles schaffen wird und jemand diese Portion wird aufessen müssen — was uns nicht lieb ist.
Die Jüngere zu überreden versuchen, eine Kinder-Portion mit einem «Überraschungs-Ei» zu nehmen, möchte ich aber auch nicht, aus Furcht, durch einen Disput die entspannte mediterrane Stimmung und die Atmosphäre, von der die Luft erfüllt ist, zu zerstören.
In dem Wissen, dass ein Teil der Portion auf dem Teller bleiben wird, erlaube ich ihr, die Bestellung zu machen. Bestellen, das mag sie gerne selber; sie tippt dann mit ihrem Fingerchen auf die Karte und heftet den Blick auf die freundlich lächelnde Kellnerin.
Ciao, bella.
Aus meinem Rucksack krame ich einen Kugelschreiber und einen langen Quittungszettel aus dem Supermarkt hervor; und mit fliegendem Stift notiere ich die Zeilen eines Gedichts, die mir im Kopf kreisen.
Dann, während ich meinen Eiscafé trinke, versuche ich, das Entstandene ein wenig in Form zu bringen.
Der Herbst
Mit durchsichtigem Flügel, fein und zart
Hat er, mit zärtlichem Seufzer,
Alles gestreift
Und goldenen Puder verstreut.
Hat Gras, Bäume, Blätter bestäubt
Und den Feldern einen Luftkuss gesandt.
Den Sonnenstrahl vergaß er in der azurblauen Spinnwebe
Und ist allmählich Sieger geblieben.
Aus dem Himmel tönt der Abschiedsruf
Derer, die sich kampflos ergeben haben.
Ich lese es meiner Tochter Katharina vor.
«Wie schön das klingt!» sagt sie.
Kapitel 2
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Rathaus
Traut euch, unpopulär zu sein. Ihr müsst nicht jeden Moment liebe Mädchen sein.
Caroline Link, Filmregisseurin
Ein Treffen der Vertreterinnen von Organisationen, Vereinen und sozialen Einrichtungen für Frauenfragen, zur Vorbereitung von Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag am 8. März.
Das Fotoshooting für Frauen unter dem Motto «Ich bin eine Blume», das ich beim vorigen Treffen vorgeschlagen habe, fällt unter den Veranstaltungen, die die Stadt im Laufe der zurückliegenden Jahre durchgeführt hat, aus der Reihe. Und ich begreife auch, warum.
Was haben die anderen denn vorgeschlagen? Ich blättere in meinem Notizblock, wo die Veranstaltungen der anderen Organisationen eingetragen sind, damit es keine zeitlichen Überschneidungen gibt.
Montag, 2. März, bis Freitag, 13. März: Ausstellung «Machen Sie mehr aus Ihrem Minijob», ausgerichtet von der Agentur für Arbeit.
Mittwoch, 4. März, 15–17 Uhr: «Mobbing».
Mittwoch, 4. März, 18–20 Uhr: Rentenberatung.
Mittwoch, 4. März, 18–20 Uhr: Workshop «Mut zum Nein».
Diese Veranstaltungen sind getragen von Untergliederungen der katholischen Kirche. Zweifellos, es sind lauter wichtige und aktuelle Themen, nichts dagegen zu sagen. Man muss das unter den russischen Frauengruppen bekannt machen …
Was gibt es außerdem?
Mittwoch, 4. März, 19 Uhr: Podiumsdiskussion: «Wohnungsnot — kreative Ideen, politische Forderungen»
Ich muss an meine Freundin Karin denken, die nun schon seit mehreren Jahren auf der Suche nach einer preiswerteren Mietwohnung ist. Sie hat drei Kinder … Angestellt ist sie bei einem Ministerium. Eine Deutsche. Vor ein paar Jahren hat sie, beunruhigt um das Wohl ihrer Kinder und ihr eigenes, ihrem Ehemann den Laufpass gegeben, der zunehmend aggressiv geworden war. Albert zog aus, und Karin blieb in dem Haus, das fast so viel an Miete kostet, wie sie im Monat verdient. Und jetzt hat sie keine Aussichten, etwas anderes zu finden; ebenso wenig Aussichten wie Tausende von schlecht Deutsch sprechenden Zuwanderern mit ihren Kindern.
«Wir möchten die Wohnung einer Familie mit zwei berufstätigen Erwachsenen geben», bekam sie von einer Vermieterin zu hören. — «Wir suchen Mieter ohne Kinder.» –«Zu vermieten: Dreizimmerwohnung für eine Einzelperson oder ein kinderloses Paar.» So etwa lauten die Wohnungsangebote in der Regionalzeitung.
Zu jener Podiumsdiskussion erwartet man den Sozialbürgermeister der Stadt. Na, der sollte sich mal anhören, was Karin zu erzählen hat …
Freitag, 6. März, 19.30 Uhr: «Nichts soll meine Schritte fesseln» — eine musikalisch-literarische Performance. Die Schauspielerin Lisa Kraus trägt Texte von Dichterinnen des 14. Jahrhunderts bis heute vor, begleitet von einem Saxophonquartett und einer Perkussionistin. Veranstalter ist die Stadtbibliothek.
Dienstag, 10. März, 19.30 Uhr: «Das Schweigen brechen — Jede vierte Frau erlebt häusliche Gewalt». Ein Film von Heidi und Bernd Umbreit, worin die Bewohnerinnen eines Frauenhauses berichten, vor welch bedrohlichem Alltag sie dort Zuflucht gefunden haben.
Ich kann gut verstehen, warum eine Veranstaltung unter dem Motto «Ich bin eine Blume» hier aus dem Rahmen fallen muss. Weil sich dabei eine Frau ganz unbefangen zu sich selber und zu ihrer Schönheit bekennen will.
In Deutschland geht das nicht.
Und nur hier, in keinem anderen Land, fällt es mir bisweilen schwer, beim Blick auf einen Menschen festzustellen, welches Geschlecht er hat.
Mein Äußeres und meine Äußerungen bei diesem Vorbereitungstreffen im Rathaus fallen aus dem Rahmen dessen, wie die anderen aussehen und was sie reden.
Wenn man sich im Saal umsieht:
Es sind Frauen mittleren Alters, Vertreterinnen sozialer Organisationen und politischer Parteien der Stadt, engagiert in Frauenfragen, mit wachem Blick für weibliche Lebensumstände und Probleme. Fast alle – betrachtet man die Gruppe aus, russischer’oder mit „männlicher“ Sicht – wirken sie in Kleidung und Aussehen recht fade. Eines freilich verbindet sie alle: sie haben sehr kluge Augen.
Problemfelder mit weiblicher Thematik gibt es in der Stadt etliche. Da ist etwa die Integration von Zuwanderinnen, die Stärkung ihrer Unabhängigkeit. Die Gebühren der Tagesstätte für Kinder zwischen einem und drei Jahren kommen dem Mindestlohn gleich – das kann sich nur die Mitarbeiterin einer großen Firma leisten – ; die Migrantinnen jedoch sind gezwungen, daheim zu bleiben, wenn nicht der ganze Verdienst für die Kita-Betreuung draufgehen soll. Da ist das Frauenhaus, wo Mütter mit ihren Kindern Zuflucht vor dem gewalttätigen Partner finden: es hat zu wenig Räume, platzt aus allen Nähten. Für eine Erweiterung, so heißt es immer wieder, hat die Stadt kein Geld. Doch davon später …
Wenn man im Saal die Reden hört …
Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, welche Blicke mich trafen, als ich kurz nach Beginn der Versammlung ums Wort bat und die Frage stellte: «Wo sind denn eigentlich die Männer?»
Ich erzählte den Damen, dass sich in Russland die Männer gewöhnlich aktiv an den Vorbereitungen solcher Veranstaltungen beteiligen. Großes Erstaunen auf den Gesichtern.
Einer der Frauen kommt ein Gedanke; sie sagt gedehnt. «Ah jaaa — ich hab mal gehört, dass man in Russland den achten März anders feiert, irgendwie schwungvoll.»
Als ich dieses Erlebnis Natalja erzähle, der Mutter meines kleinen Schülers Richard, muss die belesene Rechtsanwältin lachen.
«Die deutschen Frauen sind scheint’s der Meinung, die Rettung Ertrinkender sei Sache der Ertrinkenden selbst» — ein gängiger Ausspruch aus einem berühmten russischen Satire-Roman.
Aus den von mir vorgeschlagenen Veranstaltungen wird nur eine für verständlich und nachvollziehbar befunden: «Russisches Frühstück».
Als die Damen sich erkundigen, welches politische Thema ich bei diesem Frühstück erörtern werde, wehre ich erschrocken ab — bei dem Gedanken, wie viele Menschen und aus welchen «ehemaligen Republiken» der großen Sowjetunion da womöglich zu erwarten sind.
«Wir werden nicht über Politik diskutieren», sage ich. «Wir werden einfach nur einige Gerichte der russischen Küche kosten. Unsere Frauen können sehr gut backen». «Das Bildungszentrum Katharina" », füge ich nach einer Pause hinzu, «vereinigt unter seinem Dach Menschen, die die russische Sprache lieben, unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Die Eltern unserer Schüler sind russischsprachig, aber kommen aus ganz verschiedenen Ländern, zwischen denen die politische Lage nicht immer friedvoll ist. Das Thema Politik ist nahezu ein Tabu.»
Die Frauen nicken voll Verständnis. Unter ihnen ist Alin, eine türkische Kurdin; in ihren Augen, wenn ich verstohlen zu ihr hinschaue, bemerke ich Schmerz. Wenn sie das Wort erhält, erklärt sie als Erstes — fast wie um Entschuldigung bittend –, warum sie so gut Deutsch spricht: «Ich bin in Deutschland geboren.»
Das zweite, Begreifliche» für die Damen ist mein Vorschlag eines «Literarischen Salons, Weltweit bekannte Frauen aus Russland'». Hierzu gedenke ich heranwachsende Mädchen und ihre Mütter einzuladen. Meine Idee ist, die Mädchen dafür zu motivieren, beruflichen Erfolg zu erstreben, nach dem Vorbild solch bedeutender Frauen wie etwa der Kosmonautin Valentina Tereschkowa oder der Mathematikerin Sofja Kowalewskaja.
Nach dem zu urteilen, wie viele Hausfrauen ihre Sprösslinge zu allen möglichen Kursen und Unterrichtsstunden schleifen, sehen offenbar nicht alle für ihre Töchter die Zukunft nur als Mutter, Hausfrau, Kindermädchen oder Putzfrau. Das Thema dürfte also auf Resonanz und Interesse treffen.
Der dritte Vorschlag, «Fotoshooting für Frauen — Ich bin eine Blume», «mit oder ohne Make-up», trifft offenkundig bei der gesamten Gruppe auf eine psychologische Barriere. Er ruft Erstaunen hervor, annäherungsweise gar Angst, von leichter bis panischer, je nach dem Grad des Selbstvertrauens und der inneren Freiheit. Trotzdem wird der Vorschlag angenommen.
Der letzte Vorschlag, ein Schachturnier, sieht vor, dass kleine Mädchen (Fünfjährige, die in der russischen Schule einen Schachkurs besuchen) gegen Mitarbeiter der Stadtverwaltung antreten.
Mädchen, die mit erwachsenen Männern Schach spielen — gewissermaßen ein symbolisches Zeichen für Gleichberechtigung. Den Frauen werden die Augen warm. Was ich darlege, ruft Rührung, Begeisterung und große emotionale Zustimmung hervor.
«Ich will gegen den Bürgermeister spielen», erklärt meine fünfjährige Tochter, als sie von der geplanten Veranstaltung erfährt. Sie hat bereits das «Bauernabzeichen» errungen und fühlt sich durchaus sicher.
Für diese Veranstaltung stellt die Stadt sogar einen Saal in dem Gebäude gegenüber dem Rathaus zur Verfügung; und sie sorgt dafür, dass einige schachbegeisterte prominente Pensionäre, frühere Mitarbeiter der Verwaltung, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, hindernisfrei zum Ort des Geschehens gelangen können.
Beim Verlassen des Rathauses wendet sich eine ältere Dame an mich; an dem Treffen hatte sie als Vertreterin einer der politischen Parteien teilgenommen. «Wir schlagen seit dreißig Jahren immer die gleichen Veranstaltungen vor. Es ist wirklich an der Zeit, daran etwas zu ändern», sagt sie, um mich zu unterstützen.
«Es wäre nicht schlecht, wenn man die Männer mit dazu heranzieht», gebe ich nach einigem Nachdenken zur Antwort.
Nach dem Treffen kommt mir so ein Gefühl, dass die deutschen Frauen mit ihren feministischen Ideen vielleicht doch zu weit gegangen sind. Sie haben das andere Geschlecht aus den Augen verloren, Barrieren errichtet und Ängste in sich aufgebaut, und haben so den Weg zu einem konstruktiven Miteinander versperrt.
Kapitel 3
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marstall
Scheint mir die Sonne heut, um das zu überlegen, was gestern war?
Johann Wolfgang Goethe, «Egmont»
Auf den hohen Betonstufen sitzend, schaue ich hinunter auf den Eingang zum Einkaufszentrum «Marstall» und auf die bronzene Skulptur eines Pferdes in Lebensgröße. Manche Stellen an dem Tier sind ganz blank gerieben, wie man das von allen solchen Skulpturen auf der weiten Welt kennt. Diese Stellen werden von den Einwohnern der Stadt, den Besuchern und Touristen besonders geschätzt: an ihnen zu reiben soll Glück bringen. Wenn es möglich ist, setzt man die kleinen Kinder oben drauf und knipst Fotos. So eine Skulptur gab es auch in meiner Kindheit: den Hirsch im Park von Smolensk, mitgebracht von russischen Soldaten aus Deutschland.
Die Sitzstufen, beidseits des Einganges zum Einkaufszentrum, steigen treppenförmig hinan, die beiden Geschoss-Ebenen miteinander verbindend. In Abständen sind sie durch niedrige Tische unterbrochen, in ihre Breite eingelassen; auf solch einem hab ich jetzt meinen PC abgestellt.
Zu größerer Bequemlichkeit sind Stufen wie Tischchen auf der Oberfläche mit Holz bekleidet. Und überall verteilt, wie die Bücher im Wohnzimmerschrank der guten Hausfrau, liegen Kissen in allen möglichen Farben. Vorläufig noch schön beeinander; sorgsam aufgereiht, am Abend zuvor oder heut in der Frühe, von den Reinigungskräften.
Jetzt ist es elf Uhr an diesem späten Samstagvormittag, die Stadtbewohner werden allmählich munter, und es kommen immer mehr Menschen.
«Marstall» … Wenn ich diesem Wort nachlausche, so teilt sich’s mir in «Marsch» und «Tal». (Wobei Ersteres eines der vielen Wörter ist, die wir Russen einstmals aus dem Deutschen entlehnt haben.) Der Begriff kommt jedoch von einem alten Wort für, Pferd»: Vor dreihundert Jahren war hier der Ort, wo die Pferde des fürstlichen Hofes untergebracht waren und getummelt wurden; ein solches Gebäude wurde damals als Marstall bezeichnet. Von einer Seite des Einkaufszentrums führt eine kurze, für ihr Alter recht breite Straße geradewegs auf einen der Eingänge zum Park vor dem Schloss, der einstigen Residenz der württembergischen Herzöge.
Einstmals, vor etwas mehr als zweihundert Jahren, erschien vor diesem Schloss der Kaiser Napoleon, dessen Truppen bereits im Land standen. Er zog den Herzog Friedrich in ein Bündnis gegen Österreich und stellte ihm die Königswürde in Aussicht, die der württembergische Monarch bald darauf auch annahm.
Die Deutschen lieben ihre Geschichte. Der fünfzehnstöckige Wohnturm, der sich an dem Ort des einstigen Marstalls erhebt, ist zwar ein hässliches Bauwerk aus den siebziger Jahren, das viele gar als Verschandelung des Stadtbilds empfinden — doch bei der Neugestaltung des Einkaufszentrums, das mit seinen Läden, Boutiquen und Cafés den unteren Teil des Gebäudes einnimmt, hat man für manche historische Anspielungen gesorgt, die an die fürstlichen Pferde von ehedem erinnern. Zusammen mit den heute modernen Elementen von Holz, Glas und Beton ist ein stilvolles Ensemble entstanden. Die bunten Kissen und der süßliche Duft wohlschmeckender Café-Getränke geben ihm etwas Anheimelndes.
Heute warte ich hier auf meine Tochter Katharina. Schon seit einigen Jahren nimmt sie jeden Samstagvormittag Unterricht in russischer Sprache und Literatur.
Als eine der Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag wird es ein Fotoshooting für Frauen geben, unter dem Motto «Ich bin eine Blume». Katharina wird als Fotomodell fungieren. Ihr frisches junges Gesicht ohne Makel und Falten wird für die Aufnahmen keine Probleme bereiten. Wir — mit dabei sind die Fotografin Galina und die Kosmetikerin und Visagistin Lena — wollen einen Werbeprospekt erstellen, den Katharinas Porträt schmücken soll.
Ich greife zum Smartphone, wische mit dem Finger über die neuesten Nachrichten auf Instagram.
Ins Auge springt mir die Nachricht: «Die Zahl junger Menschen aus Russland, die ihr Land verlassen wollen, hat innerhalb der vergangenen zehn Jahre eine Rekordhöhe erreicht. 53 Prozent der jungen Russländer haben vor, dauerhaft im Ausland zu leben.»
Indem ich mich so umschaue, muss ich mir selber die Frage stellen: «Wie kommt es denn eigentlich, dass ich jetzt hier bin?» Dass ich mich in einem Märchenwald verirrt und mich unversehens hier befunden hätte, kann ich ja schlecht behaupten.
Ich frage mich: «Hatte ich das, schon immer» gewollt, und was hat mich dorthin geführt, wo ich jetzt bin?»
Ich erinnere mich aufs Genaueste, dass ich nirgendwohin vorhatte auszureisen.
Kapitel 4
Herbst 2005
Deutschland, Ludwigsburg, Volkshochschule
Die fünfzigjährige Frau Kraft, meine Lehrerin — ich nenne sie Frau Ljuba — ist vor vielen Jahren, nachdem sie zu Beginn der achtziger Jahre die zehnklassige Schule noch in der Sowjetunion absolviert hatte, aus Russland emigriert. Genauer gesagt: abgehauen — doch davon später…
Sie studierte in Köln Germanistik, und ihrem Russisch hört man einen angenehm klingenden deutschen Akzent an. In ihrer Jugend, so ist es wahrzunehmen, muss sie sehr hübsch gewesen sein. Lange blonde Haare, die in welligen Locken herabfallen, ohne sie dabei jedoch, wie so viele langhaarige Frauen ihres Alters, in eine betagte Wassernixe zu verwandeln. Ebenmäßige Gesichtszüge, gute Figur. Sie ist immer noch eine Schönheit, und während des Unterrichts erlaubt sie sich, mit einem sympathischen jungen Italiener zu kokettieren. Man merkt, dass es ihr mit uns ein bisschen langweilig ist; schließlich hält sie diesen Sprachkurs schon seit zehn Jahren.
Ihre Wohnung liegt ganz nahebei, keine hundert Meter von dem Gebäude entfernt, wo die Kurse stattfinden.
Erst in vorgerücktem Alter hat Ljuba geheiratet. Das Paar erwarb ein Haus in einem modernen Carree in nächster Nähe ihres Arbeitsplatzes. Unweit des Stadtzentrums; sündhaft hohe Bodenpreise. Für den Grundstückseigner ist es billig, für den Käufer der Immobilie teuer. Und wenn du dich, dicht an dicht lebend, mit deinen Nachbarn nicht gut verstehst, oder diese sich nicht mit dir, dann hast du’s als Hausbesitzer schlimm getroffen. Die Nachbarn können dir ja sogar beim Essen zugucken, wenn du in deinem sechs Quadratmeter kleinen Garten sitzt.
Des Familienlebens hat Ljuba sich nicht lange erfreuen können. Nach ein paar Jahren ging die Ehe auseinander. Die freiheitsliebende Schönheit konnte das ständige Murren und Nörgeln ihres Ehemannes nicht mehr ertragen.
«So ein Häuschen war mein Traum gewesen», erinnert sie sich später. «Und Träume, so seltsam das ist, gehen manchmal in Erfüllung.»
Anfangs hatte Ralf gar nicht heiraten wollen, und auch Ljuba hatte es nicht vorgehabt; doch dann war sie schwanger geworden.
Manchmal in der Pause kommt Ljubas Tochter zu uns herübergelaufen, ein Mädchen von dreizehn. Russisch kann sie ein bisschen verstehen, sprechen jedoch nicht.
Was mich betrifft…
Seit Herbst 2004 bin ich in Deutschland. Meine Tochter Katharina ist drei Monate alt. Ich besuche einen abendlichen Deutschkurs der Volkshochschule. Es ist meine zweite oder dritte Niveaustufe.
Die vorigen Kurse habe ich als Schwangere besucht; und als recht fleißige Schülerin, die am Ende auf die Fragen «Wie heißt du? Woher kommst du?» antworten konnte. Und die panische Angst hatte, in eine der kleinen Boutiquen einzutreten, wo sofort die Verkäuferin auf dich zustürzt und fragt: «Kann ich Ihnen helfen?»
Ehrlich gesagt bin ich dieses Mal keine so gute Schülerin; die Tochter nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Bisweilen lass ich den Kurs ausfallen; mein Mann kommt oft später von der Arbeit heim. Die Hausaufgaben mach ich flüchtig nebenher.
Als sie hört, dass ich Grundschullehrerin bin, sagt Ljuba: «Es bräuchte eine russische Schule hier am Ort. Vor ein paar Jahren hat die Stadt zahlreiche Übersiedler aufgenommen: Juden und Russlanddeutsche. Viele Familien wollen, dass ihre Kinder Russisch lesen und schreiben können. Wie wär’s, wenn wir an die russische Botschaft in Berlin schreiben — vielleicht würden die uns unterstützen?»
Frau Ljuba entwirft einen entsprechenden Brief. Ich passe ihn an den geltenden Stil formeller Korrespondenz im Russischen an. Das Schreiben senden wir nach Berlin an die Botschaft der Russländischen Föderation in Deutschland.
Eines Tages klingelt bei mir daheim das Telefon. Ein Mitarbeiter der Botschaft erklärt mir in höflichem Ton, dass die Gelder für Projekte aller Art bereits sämtlich verplant seien. Aus der Unbestimmtheit seiner Worte ist herauszuhören, dass der russische Staat kein Interesse daran hat, eine Schule in diesem abwegigen kleinen Ludwigsburg zu unterstützen.
Frau Ljuba ist traurig. Eigenständig solch eine Schule aufzuziehen, daran ist bei dem geringen Einkommen als Lehrerin und dem, was sie als Alleinerziehende von ihrem Mann bekommt, nicht zu denken.
Und wir unsererseits leben in zwei getrennten Wohnungen.
Kapitel 5
Februar 2019
Deutschland, Monte Scherbelino bei Stuttgart
Raum für alle hat die Erde
Friedrich Schiller
Der Gipfel des Berges, den wir heute besteigen, besteht aus den Trümmern von Häusern und Bauwerken, die im Zweiten Weltkrieg bei den Bombardierungen durch amerikanische und englische Flugzeuge in den Jahren von 1940 bis 1945 zerstört wurden.
Der Weg windet sich in Serpentinen in steiler Steigung empor. Oben ragt ein Kreuz, ringsum der weite Himmel. Luft und Licht allüberall.
Und das Gefühl: Die Welt gehört dir. Sie ist endlos. Und liegt dir zu Füßen, dort unten.
360 Grad um dich herum: wunderschönes Blau.
Doch außerdem: die Überreste von Gebäuden.
Ich stehe auf dem höchsten Punkt eines Trümmerhaufens und blicke auf das Kreuz und in den Himmel. Er ist sehr hell und klar, ohne ein einziges Wölkchen, makellos rein und sehr groß. In ihm ist Stille.
Nur die Steine unter meinen Füßen — die leben. Ich spüre, wie viel sie wissen. Behutsam schaue ich um mich herum. Da eine Säule… Dort ein Rundbogen… Hier eine Löwenfigur…
Ich lege dem Löwen die Hand auf den Kopf. Ein Stück vom Maul ist ihm abgeschlagen. Ich streiche über seine wellige Mähne. Sie ist warm… Heute ist ein sehr warmer, sonniger Tag.
Nach Hause zurückgekehrt, öffne ich Wikipedia.
«1,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt von den zerbombten Gebäuden wurden auf den Birkenkopf geschafft.
«Im Lauf des Krieges wurden 142 000 Bomben über Stuttgart abgeworfen.»
«4590 Menschen verloren durch die Luftangriffe ihr Leben.»
«Durch die Bombardements wurden in der Stadt 3912 Gebäude zerstört oder beschädigt.»
«Die Alliierten verloren bei den Angriffen auf Stuttgart 300 Flugzeuge und 2400 Angehörige ihrer Luftwaffe.»
Ich greife nach einem Blatt Papier und einem Kugelschreiber und beginne rasch zu schreiben. Auf Deutsch.
Der Himmel (Himmelblau überall)
Ist hier ein Gott.
Kein Wind, sehr still und friedlich
An diesem Ort.
Man spürt nur, wie atmet
Ein alter Berg
Und zwischen Krieg und Frieden
DU, als Mensch, ein Zwerg.
Kapitel 6
Winter 2005–2006
Ein kleines Dorf am Bodensee
Mein Mann, von Beruf Maschinenbauingenieur, hat einen neuen Auftrag: von einem Konzern, der Flugzeuge herstellt. Das Konstruktionsbüro befindet sich in einem kleinen Ort am Bodensee. Die Firma hat ihm eine nette kleine möblierte Wohnung gemietet, in einem Dorf in der Nähe, mit Schlafzimmer und einem Wohnraum mit Küchenzeile.
In der ersten Zeit kommt er freitagabends heim und fährt montags früh wieder zur Arbeit. Den Bodensee und Ludwigsburg trennen zwei Autostunden und etwa zweihundert Kilometer. Ich bin unter der Woche allein zu Hause und rund um die Uhr mit dem Baby beschäftigt.
Für mich ist das arg erschöpfend; ich habe keinerlei Hilfe, von den Freunden oder Verwandten lebt niemand in der Nähe.
Und so beschließen wir, gemeinsam an den Bodensee zu ziehen. Von der Arbeit heimgekommen, kümmert sich mein Mann gern um das Töchterchen, und ich bin froh, draußen etwas Luft zu schnappen und ein Stückchen Freiheit zu genießen.
Hingehen kann man eigentlich nirgends. Im Dorf gibt’s eine Bäckerei, einen Metzgerladen, ein kleines Lebensmittelgeschäft und eine Weinhandlung. Letztere ist etwas Besonderes. Das Dorf liegt rings umgeben von Weinbergen, die ebenso wie die Weinhandlung von Generation zu Generation weitergeführt werden und seit vierhundert Jahren ein und derselben Familie gehören.
Als ich einen Blick in den Laden werfe, entdecke ich ungewöhnliche Weine, bei regionalen Ausstellungen mit Goldmedaillen prämiert.
Die freundliche Inhaberin erklärt mir, dass man jeden dieser Weine probieren dürfe. Als ich auf eine Flasche deute, die sich aber als noch ungeöffnet erweist, zieht die Dame ohne zu zögern rasch und professionell den Korken ab und gießt mir von dem Wein in ein kleines Plastikglas.
Ich erzähle meinem Mann dieses Erlebnis.
«Da siehst du, was es heißt, auf dem Dorf zu leben!» lacht er. «Stell dir vor, was passieren würde, wenn ein Supermarkt in Moskau eine, Weinprobe» anböte? Manche würden sich am Eingang häuslich niederlassen.»
An den Wochenenden fahren wir heim in die Stadt.
Kapitel 7
Winter 2005–2006
Deutschland, ein altes kleines Haus nahe Ludwigsburg
Zurückgekehrt in das alte Häuschen in der Nähe von Ludwigsburg, in dem wir ein Jahr vor der Geburt unserer Tochter eine Wohnung gemietet haben, schalten wir als Allererstes mal sofort überall die Heizung an.
Dies alte Haus — wie im Bilderbuch sieht’s aus, pastellfarben angestrichen, mit Blumen auf dem Fenstersims und einem Vorgärtlein — ist schön bloß im Bilderbuch. In Wirklichkeit ist das eine Behausung, die man nie richtig durchgeheizt bekommt.
Das Badezimmer ist riesig, mit Heizkörper. Es hat Duschkabine und Badewanne. Doch selbst bei eingeschalteter Heizung ist es dort kalt, als ob die Wärme sofort nach draußen entwiche. Ich muss all meinen Mut zusammennehmen, um mich ganz rasch auszuziehen, worauf ich dann in die Duschkabine hüpfe und eilends das warme Wasser aufdrehe. Etwa drei Minuten lang strömt eiskaltes Wasser auf meine Füße, dann wird’s ganz allmählich warm.
In der Küche gibt es überhaupt keinen eingebauten Heizkörper. Deshalb schalte ich einen Ölradiator ein. Wenn wir Pech haben und im selben Augenblick der Kühlschrank anspringt, fliegen in der ganzen Wohnung die Sicherungen raus.
Dann müssen wir über die knarrende Holztreppe, bei der jeder Schritt das ganze Haus laut erkrachen lässt, hochstapfen zu unserem Vermieter. Er wohnt zwei Stockwerke höher, unterm Dach, und ist sozusagen der Herr über sämtliche Sicherungen im Haus.
Dieser arbeitslose Deutsche ist sehr sparsam und lebt von dem Geld, das er von uns und von den Leuten in der Nachbarwohnung als Miete bekommt.
Dass er am warmen Wasser spart, lässt sich aus der Geruchswolke vermuten, die er im Vorbeigehen auf der Treppe und im Hausflur um sich verbreitet.
Wenn ich die Wohnung misslicherweise gerade dann verlasse, nachdem Jörg soeben durchs Treppenhaus gegangen ist, halte ich so lange den Atem an, bis ich draußen auf der Straße die rettende frische Luft erreicht habe.
Das Übrige weiß ich von seiner Frau (sie kommt aus Bosnien), die sich oft beklagt, dass ihr Mann ihr als Haushaltsgeld nur einen Euro pro Tag gibt. Wie so viele Ausländerinnen verdient sie sich dazu, indem sie als Putzfrau schwarzarbeitet.
Unwillkürlich frage ich mich, wie viele solcher Ehefrauen, die putzen gehen müssen — unglückliche, abhängige, gedemütigte Ausländerinnen –, in diesem Land leben mögen?
Oftmals dringt durch zwei Stockwerke hindurch hysterisches Geschrei durchs Haus, Aufstampfen, Weinen; es hört sich an, als ginge Mobiliar zu Bruch: Unsere Nachbarn beschimpfen und prügeln sich.
Wir aber, nachdem wir für unsere praktisch nur an den Wochenenden benutzte Wohnung eine Heizkostenrechnung erhalten haben, die fast die Höhe unserer monatlichen Miete übersteigt, machen uns auf die Suche nach einer anderen Wohnung.
Schließlich übersiedeln wir nach Marbach, weltbekannt als der Geburtsort Friedrich Schillers.
Kapitel 8
Herbst 2006
Deutschland, Marbach
Freundschaft mit Anita aus Bosnien
An einem warmen Herbsttag lernen wir bei einem Spaziergang durch die alte Ortsmitte des Städtchens Marbach eine anmutige und sehr junge Mutter mit einem niedlichen kleinen Mädchen kennen. Es ist Anita mit ihrer Tochter Franziska. Anita kommt aus Bosnien. Franziska ist in Deutschland geboren.
Die beiden Mädchen freunden sich rasch an. Wenn man sie zusammen sieht, muss man an das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot denken: Katharina, hellhäutig, mager, mit grauen Augen, und Franziska mit ihrem bräunlichen Teint, den blitzenden beerenschwarzen Äuglein und den dunklen Locken.
Anitas Familie — ihr Mann ist als Kind aus Tunis nach Deutschland gekommen — wird uns für die nächsten fünf Jahre zu Freunden.
Anita hat sichtlich Talent für Sprachen. Mit achtzehn, auf Besuch bei ihrer Tante, lernte sie Franz kennen, und sehr bald waren sie verheiratet. Ohne je einen Sprachkurs zu besuchen, fand sie sich ins Alltagsdeutsch hinein, indem sie zuhörte, wie ihr Mann und ihr Schwiegervater sprachen.
Als Heranwachsende hatte sie die Bombardierungen Bosniens erlebt. Dort, im Keller des Hauses sitzend, hatte sie sich von sauer gewordener Milch ernährt. Jetzt in Deutschland ist sie absolut nicht wählerisch im Essen. Obwohl sie von Beruf Köchin ist und ausgezeichnet kochen kann.
Für mich und Katharina, die mit drei Jahren in den Kindergarten geht, bedeutet der Umgang mit Anita und Franziska eine gute Übung im Deutschen.
Kinderkrippen für unter Dreijährige gibt es in der Stadt nicht. Das heißt: eine einzige ist da — aufgenommen werden ein Dutzend Kinder. An Einwohnern hat Marbach um die elftausend.
Wir treffen uns häufig, gehen auf den Spielplatz, trinken daheim Tee. Manchmal bastele ich mit den Kindern, und Anita sagt, ich machte das sehr richtig, wie eine Lehrerin.
Oft streiten sich die Kinder lauthals um das Spielzeug; dann bedaure ich, dass wir die Spielsachen nicht doppelt haben: jedes in zwei Exemplaren.
Kapitel 9
Januar 2008, Russland, Smolensk
Anton Denisjenko. Zwanzig Jahre danach
Noch in Moskau hatte mir Rusanna, eine Freundin aus dem Studium, von einem neuen Internetportal «Klassenkameraden» erzählt; viele hätten dort ihre Freunde aus der Schule und der Hochschule wiedergefunden.
Als ich mich dann schließlich dort registriert hatte, hielt ich im Wesentlichen nur mit denjenigen Kontakt, mit denen ich auch sonst bereits in Verbindung stand.
Eines Abends sah ich das Postfach durch — und als ich den Absender und die Mitteilung erblickte, wurde ich starr, mir stockte der Atem.
«Hallo, Lerka! Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Wir waren in Kirow in derselben Klasse. Ich bin dann nach Smolensk gezogen. Wenn du dich erinnerst, schreib doch mal, wo du jetzt lebst. Wie geht es dir? Hattest du nicht eine Oma in Smolensk? Fährst du manchmal noch nach Smolensk? Anton Denisjenko».
Antoscha … «Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst.» Antoscha… Anton Denisjenko.
Die Schüler kannten sich alle seit der ersten Klasse. Du kamst in der sechsten dazu.
Deine Mutter, umwerfend hübsch und klug, hatte sich von deinem Vater getrennt und einen Fabrikdirektor geheiratet. Dein Stiefvater war nach Kirow versetzt worden, um dort wieder eine Fabrik zu leiten. So kam’s, dass du in unserer Klasse auftauchtest.
Du wohntest in einem Neubau hundert Meter von der Schule. Bloß einmal quer über den Platz.
Du saßest in der letzten Bank. Still und bescheiden. Obwohl es Heranwachsenden oft schwerfällt, sich in ein neues Kollektiv einzufügen, hat dich deine Wesensart zwar keine engen Freunde, aber doch ein paar gute Kameraden finden lassen.
Ich saß weiter vorne; beim Diktat durfte jeder bei mir abschreiben, Vorder-, Hinter- oder Nebensitzer. Und ich freute mich, wenn du an die Tafel gerufen wurdest. Ich liebte es so sehr, dich zu beobachten.
Nach ein paar Jahren wurde dein Vater nach Smolensk versetzt, um auch dort eine Fabrik auf Vordermann zu bringen. Deshalb hast du die zehnte Klasse nicht mehr bei uns beendet.
Du hast mich bei der Abschlussfeier nicht gesehen. In meinem hellblauen Kleid. Du warst nicht da. Dabei hatte ich mit keinem anderen tanzen wollen. Von diesem und von jenem wurde ich aufgefordert; doch ich hab keinen im Gedächtnis behalten.
In Smolensk lebte meine Großmutter. Als ich nach der Schule dorthin gezogen war und an der Pädagogischen Fachschule zu studieren begonnen hatte, hab ich dich wiedergefunden. Das war nicht schwer, unsere Mütter hatten untereinander Verbindung gehalten.
Erinnerst du dich denn nicht mehr, Antoscha? Es war Herbst, und mein siebzehnter Geburtstag. Du kamst zu mir und hast mir, wie immer sehr schüchtern, einen riesigen Strauß prächtiger roter Nelken überreicht. Solche Nelken hab ich weder vorher noch nachher jemals im Leben gesehen.
Obgleich es in meinem Leben viele Blumensträuße gab, riesengroße, üppige, zurückhaltende und stilvolle. Von Schülern, von ihren Eltern, von Freunden, Kollegen, Freundinnen und Vorgesetzten. Am 1. September, dem Tag des Schulbeginns, stand die ganze Wohnung voll mit Blumen, füllten sämtliche Vasen, Eimer und sonstige passende Gefäße.
Damals, mit meinen siebzehn Jahren, blickte ich lange auf dieses Bukett und begriff, dass es ein Zeichen sein sollte… Aber wer macht sich mit siebzehn ernsthaft Gedanken über irgendwelche Zeichen? Bald schon hatte ich das vergessen, und unsere Wege gingen in verschiedene Richtungen.
Das letzte Mal haben wir uns 1998 wiedergesehen. Jetzt zeigt der Kalender 2008. Zwanzig Jahre sind vergangen.
Ich bin nach Moskau gezogen. Und du hast geheiratet. Dein Stiefvater hat dir ein Hochzeitsgeschenk machen wollen und eine Wohnung gekauft. Durch einen dummen Zufall lag die in demselben Haus, in dem meine Oma lebte. All das erfuhr ich erst später durch meine Mutter.
Immer wenn ich meine Großmutter besuchte und an dem Haus entlangging — und es erstreckt sich über acht Eingänge –, hoffte ich inständig, dir zu begegnen. Dass du zufällig heraustreten würdest, um den Hund auszuführen. Vielleicht einkaufen zu gehen. Oder du kämst von der Arbeit heim.
Ich begegnete einem halbwüchsigen Jungen, der dir wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er ging in einem Pulk mit anderen zusammen, aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Denn das warst du. Du, wie ich dich in Erinnerung habe. Zwanzig Jahre zuvor.
Ich habe alle, die ich seit der Kindheit kannte, noch einmal getroffen. Absolut alle. Außer dir.
Und dann bin ich nach Deutschland ausgereist.
Kapitel 10
11. März 2009
Deutschland, Winnenden unweit von Stuttgart
Tim Kretschmer
In allen Nachrichten nur ein und dieselbe Meldung: «Ein Jugendlicher hat das Gebäude seiner Schule betreten und dort Kinder und Lehrer erschosssen. Die Zahl der Opfer ist unbekannt.»
Trotzdem überrascht mich der Anruf von Mitarbeitern des Russischen Dienstes der BBC aus Moskau. Warum man sich an mich wendet: Mein Diplom als Psychologin ist in Deutschland anerkannt, und so findet sich meine Telefonnummer auf allen möglichen Webseiten.
«Was meinen Sie: Kommt eine derartige Aggression daher, dass Tim Kretschmer sich, übermäßig mit Computerspielen beschäftigt hat?», höre ich die junge Reporterin fragen.
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